«Le Flibustier mystérieux»                        

Im Jahr 1934 veröffentlichte Charles De La Roncière (1870-1941), hochdekorierter Autor und Kurator der französischen Nationalbibliothek, das kleine Buch “Le flibustier mystérieux”. Auf Seite 9 ist ein Kryptogramm, ein Dokument in einer unbekannten Schrift, abgedruckt. Nach Angaben des Autors suchte ihn eine Frau “aus einer fernen Region in Afrika” auf und bat ihn um eine Kopie der “Schlüsselbeine von Salomon” (lateinisch: Clavicula Salomonis), einem Zauberbuch aus dem 14. oder 15. Jahrhundert der italienischen Renaissance, welches fälschlicherweise König Salomon zugeschrieben wird. Sie brauche das Buch zur Entschlüsselung der Chiffre. Die Frau behauptete, sie habe auf ihrem Grundstück Felszeichnungen und andere Hinweise darauf gefunden, dass das Stück Papier wahrscheinlich Informationen über einen wertvollen Schatz enthalte. De la Roncière erkannte in dem Text einen bekannten Freimaurer-Code und ermittelte anhand der Häufigkeit der einzelnen Buchstaben Französisch als Grundsprache. Die 17 Zeilen des Dokuments haben keine erkennbaren Wort- oder Satztrennungen und keine Satzzeichen.

Der Text, der sich nach der gewissenhaften Dechiffrierung mit Hilfe des Transkriptionsschlüssels im Buch ergibt, ist folgender:

01        APRE D MEZUNEPAIREDEPIJONTIRESKET

02        2 DOEURSQESEAJTETECHERALFUNEKORT

03        FILTTINSHIENTECUPRENEZUNECULLIERE

04        DEMIELLEEFOVTREFOUSENFAITESUNEONGAT

05        METTEZSURKEPATAIEDELAPERTOTITOUSN

06          VPULEZOLVSPRENEZ 2 LETCASSESURLECH

07        EMINILFAUTQOEUTTOITANOITIECOUUE

08        POVRENPECGERUNEFEMMEDHRENGTVOUSNAVE

09        QUAVOUSSERERLADOBAUCGEAETPOURVE

10        NGRAAIETPOREPINGLEOUEIUILETURLOR

11        EILJNOURLAIREPITERUNCHIENTUPQUN

12        LENENDELAMERDEBIENTECJEETSURRU

13        NVOVLENQUILNISEIUDFKUUNEFEMMRQ

14        IVEUTSEFAIREDUNHMETSEDETE SUD RE

15        DANSDUUI . OOUQNDORMIRUNHOMMR

16        ESSCFVMM / PLFAUTNRENDREUDLQ

17        UUNDIFFURQECIEEFURTETLESL

Roncières eigene «Übertragung» ist eine Mischung zwischen zeichengetreuer Umschrift und versuchter inhaltlicher Deutung.

(1re ligne)       I. Prenez une paire de pijon virez les

(2e ligne)         2 coeurs … tête cheval … une kort

(3e ligne)         fil winishient écu prenez une cuillère

(4e ligne)         de mielle  outre vous en faites une ongat

(5e ligne)         mettez sur le passage de la ………

(6e ligne)         ……….. prenez 2 liv cassé sur le ch-

(7e ligne)         (ch)emin, il faut ….. toit à moitié couvé

(8e ligne)         pour empecher une femme ……. vous n’avé

(9e ligne)         qu’à vous serer la ……….. pour ve-

(10e ligne)      nir …….. épingle … juilet …..

(11e ligne)      …….. faire piter un chien turq un

(12e ligne)      ….. de la mer.. bien sèche et sur ..

(13e ligne)      ……………… k’unne femme q’

(14e ligne)      (qu)i veut se faire d’un …………..

(15e ligne)      dans ……… dormir   un homm(e) r

(16e ligne)      ……… faut rendre … q

(17e ligne)      (q)u’un diffur (?) …………….

Im weiteren Verlauf des Buches spekuliert der Autor darüber, welcher Pirat der Schreiber des Kryptogramms sein könnte. Er kommt zur eindeutigen Überzeugung, dass es sich um Olivier Levasseur, genannt «La Buse», einen Mann aus Calais handeln müsse. Und er schreibt die drei Zeilen, die seit 90 Jahren Abenteurer, Romantiker und verwegene Schatzsucher dazu gebracht haben, sich in gewagten Spekulationen und wilde Abenteuer zu verlieren:

Der Überlieferung nach streckte der Pirat, der seinen Schatz versteckte, der Menge sein Kryptogramm entgegen, bevor er zur Hinrichtung schritt, und seine letzten Worte waren wie ein Testament: “Für den, der es herausfindet.“

La tradition veut que le forban, qui cacha son trésor, tendît à la foule son cryptogramme avant de marcher au supplice et que ses dernières paroles fussent comme un testament: “Pour celui qui le découvira.”

1962 wurde das Kryptogramm in dem Buch “Trésors du monde : enterrés, emurés, engloutis” von André Charroux erneut veröffentlicht. Es handelt sich um eine fotografische Reproduktion aus dem “Flibustier mysterieux”. Eine neue Version findet sich erst in der Neuauflage von 1968. Auf den ersten Blick scheint sie derjenigen von De la Roncière zu entsprechen. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man jedoch einige “Verschmutzungen”, die in der Flibustier-Fassung offenbar wegretuschiert wurden. Besonders auffällig ist ein runder Fleck auf der 15. Zeile, der in einer großen Lücke zwischen zwei Zeichen des Codes liegt.

Die direkte Überlagerung der beiden Versionen des Kryptogramms zeigt, dass die Zeichen ganz offensichtlich identisch sind (wie man z. B. an der einzigen Stelle über dem dritten Zeichen der ersten Zeile sehen kann, die bei De la Roncière nicht retuschiert wurde). Allerdings gibt es leichte Verschiebungen. Es ist anzunehmen, dass es sich um zwei verschiedene Fotografien oder Negative desselben Originaldokuments handelt. Cyrille Lougnon geht in seinem neuesten Buch davon aus, dass Charroux über De la Roncières Tochter Monique an das Bild oder die “Kopie des Manuskripts” gekommen ist. Unter dem Kryptogramm bei Charroux wird die Quelle angegeben als:

«Kryptogramm des Piraten» auf der Insel Mahé gefunden. Es handelt sich um eine verschlüsselte Nachricht, die der Pirat La Buse auf dem Weg zum Galgen in die Menge warf und die den Standort seiner Schätze verraten soll. (ph. Bibl. Nat.)

Der Dechiffrierschlüssel, den Charroux von De La Roncière übernimmt, soll sich laut bibliographischen Angaben ebenfalls in der Bibliothèque Nationale befinden. Anfragen an diese Institution werden jedoch immer auf die gleiche Weise beantwortet: Die Bibliothek war nie im Besitz des Kryptogramms und des Dechiffrierschlüssels.

1949 überliess die «Frau aus dem Indischen Ozean», die später als Marie Léoncine Rose Savy (1870-1952) identifiziert wurde, gemäss einem Artikel von Ian Fleming von 1958 die Dokumente an Réginald Cruise-Wilkins für 200 Pfund Sterling (laut einer anderen Quelle für 29$). Cruise-Wilkins war Brite, ehemaliger Unteroffizier und militärischer Ausbilder. Als Geschäftsführer einer Transportfirma aus Kenia war er 1947 auf die Seychellen gekommen, um sich von Malaria zu erholen, als er Madame Savy kennenlernte. Reginald suchte bis zu seinem Tod im Jahr 1977 vergeblich nach dem Schatz von La Buse. 1987 nahm John Cruise-Wilkins, der Sohn von Reginald die Suche nach dem Schatz wieder auf. Man muss annehmen, dass das Kryptogramm, das de La Roncière in seinem Buch abdruckte, zuletzt in Johns Händen war oder noch immer ist.