ÜBERSETZUNGSVERSUCHE

Seit der Veröffentlichung des rätselhaften Kryptogramms im Jahr 1934 haben sich unzählige Schatzsucher, Amateur-Kryptologen und Abenteurer an seiner Entschlüsselung versucht – meist mit wenig Erfolg. Zwar ist der zugrunde liegende Code – eine Variante der Freimaurer-Schrift – weitgehend entschlüsselt, doch der daraus entstehende Text wirkt wirr, voller sprachlicher Fehler und ohne klare Aussage. Kein Wunder, dass Theorien von Sternbildern über Herkules-Aufgaben bis hin zu okkulten Rezepten aus dem Mittelalter kursieren. Der britische Forscher Nigel Ward war einer der Ersten, der systematisch auf mögliche Fehler im Code hinwies – doch erst durch die hier vorgestellte „Fehlerlogik“ lässt sich das Rätsel wirklich greifbar machen. Dieser Ansatz geht davon aus, dass viele vermeintlich unverständliche Stellen durch einfache, nachvollziehbare Schreib- und Lesefehler entstanden sind – und dass der ursprüngliche Schreiber weder Muttersprachler noch geübt in Grammatik war. Die Ergebnisse: überraschend klar, historisch plausibel – und ein möglicher Schlüssel zur echten Bedeutung des Kryptogramms.

Transkription von Nigel Ward (Ausschnitt)

Seit der Publikation des Kryptogramms 1934 haben verschiedenste Menschen, vor allem hoffnungsvolle Schatzsucher versucht, einen Sinn im Text des Kryptogramms zu erkennen. Die Krux am Ganzen: Der Code selbst ist eindeutig, die «Zeichensubstituition» (Ersetzen von Zeichen des Codes mit Buchstaben) weitgehend unbestritten. Aber der entstehenden «Klartext» ist alles andere als klar. Dadurch werden wilden Spekulationen um den «gemeinten» Inhalt Tür und Tor geöffnet. So liest man im Buch von Günter Seuren «Schätze dieser Erde» von 1989:

«Nach langem Nachdenke glaubte Wilkins, eine Verbindung zur griechischen Sagenwelt gefunden zu haben: […] Allmählich fand Wilkins heraus, dass le Vasseur den verschlüsselten Wegweiser zu seinem Schatz noch mit einem anderen Abenteuer der griechischen Sagewelt verbunden hatte: So wie Herkules zwölf mühsame Werke vollbringen musste, so hatte Wilkins zwölf Aufgabe zu lösen, um das Versteck zu finden.»

Das Sternbild Ecu de Sobieski bei Mezino

Emmanuel Mezino liest das Kryptogramm als Sternenkarte, allerdings nimmt er als Basis dazu eine offensichtliche Fälschung des Dokuments, von der er allerdings lange Zeit behauptete, es sei das einzige Original. Er entdeckt zwischen drei A-Zeichen das Wort ECU (auf Zeile 3) und interpretiert sie als Sternbild Ecu de Sobieski. Allerdings muss er nicht-existierende Zeichen ins Kryptogramm dazuerfinden, um das Sternbild sinnvoll zu ergänzen und der eigenenen Theorie ein Minimum an Gewicht zu verleihen. Es fragt sich, was es einem Piraten bringen soll, eine Sternkonstellation in einem Kryptogramm abzubilden, zumal sich Mezino bei der Ortung des Schatzes auf einen Teil des Kryptogramms bezieht, der offensichtlich gefälscht ist bzw. bei Edgar Alan Poes «Goldkäfer» abgeschrieben wurde.

E. A. Dresen vermischt in seinem Roman «Die Paragoninsel» Fakten und Fiktion nach Belieben. Neben sehr spannenden Ansätzen (besonders in Bezug auf die «Spezielle Zeichen» im Kryptogramm) schiesst seine Fantasie ins Kraut, gerade, wenn es um die «Übersetzung» des Kryptogrammtextes geht. Sie ist leider reine Fantasie, die sich der Dramaturgie des Romans unterwirft.

Alle diese Annäherungen an den Inhalt des Kryptogramms haben eines gemeinsam: Keiner der Autoren kann seine Interpretation auch nur annähernd kryptologisch, graphologisch, systematisch oder logisch begründen. Alles bleibt reine Spekulation.

Cyrille Lougnon, ein sonst herrvorragender Rechercheur treibt es auf die Spitze, indem er sich zur Behauptung versteigt, dass dieser «undurchdringliche Text» absolut keinen Sinn ergebe und schreibt:

«Aber seltsamerweise gibt es jeden Tag neue Anhänger seiner rätselhaften Botschaft, die sich, unbeeindruckt von seiner offensichtlichen Hermetik, bemühen, einen zu finden.»

Diese Diagnose macht es ihm einfacher, sich seinen Fantasien hinzugeben, wonach das Kryptogramm auf einen bestimmten Ort auf La Réunion hinweise, wo der Schatz vergraben liege. Leider versäumt der Historiker es, danach zu fragen, ob es überhaupt plausibel und wahrscheinlich ist, dass der eingekerkerte Pirat dieses Schriftstück irgendwo verstecken konnte und unbemerkt unter dem einzigene Kleidungsstück, einem langen Hemd, das er auf dem Weg zu zum Galgen trug, zu verbergen, um es nachher ins Publikum zu werfen. Lougnon geht – wie die meisten hoffnungsvollen Forscher und Schatzsucher de La Roncières Legende auf dem Leim.

Ansätze einer „Fehlerlogik“ bei Nigel Ward

Tatsächlich gibt es aber auch ernsthafte und systematische Versuche, dem Kryptogramm einen Sinn abzugewinnen. Nigel Ward zeigt auf seiner Seite auf, dass die Pigpen-Cipher, also der Freimaurer-Code, eine Reihe von Möglichkeiten beinhaltet, Zeichen falsch zu schreiben oder geschriebene Zeichen falsch zu interpretieren. (Darauf hatte schon de La Roncière in seinem Buch verwiesen: «Ein weiterer Nachteil ist, dass der Pirat nicht immer den ersten Buchstaben der Gruppe mit einem Punkt ausgezeichnet hat, so dass man t lesen kann, wo eigentlich s stehen müsste, f, wo eigentlich e stehen müsste, etc.») Am Ende verfällt aber auch Ward der Versuchung, zu interpretieren, um dem Inhalt einen erkennbaren Sinn zu geben, statt sich konsequent an sein System zu halten.

Dabei sind es rein mathematisch gar nicht so viele Optionen. Wenn man die Zeichen genau analysiert, kann man eine klar definierbare «Fehlerlogik» erkennen, also klar erkennbare potientielle Fehlerquellen. Schauen wir uns den Freimaurer-Code an, der im Kryptogramm verwendet wurde:

Der Code funktioniert nach dem Substitutionsprinzip, d. h. ein Zeichen ersetzt einen Buchstaben. Um einen Buchstaben zu enkodieren, nimmt man die Striche, die diesen Buchstaben «umrahmen». Handelt es sich um den ersten Buchstaben in einem Feld, wird zusätzlich zum Rahmen noch ein Punkt mitten in das Zeichen gesetzt.

Beispiele:

Wir können zwischen rechtwinkligen Zeichen (erstes Raster, Buchstaben A bis R) und spitzwinkligen Zeichen (Buchstaben S bis Z) unterscheiden.

Die Fehleroptionen ergeben sich durch Punkte, die vergessen oder zu viel gesetzt wurden, durch fehlende oder versehentlich gesetzte Striche, durch Fehlinterpretation von Punkten als Striche oder von Strichen als Punkte und durch «falsche» Winkel, wodurch rechtwinklige Zeichen zu spitzwinkligen werden oder umgekehrt.

Beim Entschlüsseln hat sich gezeigt, dass es auch zu (wenigen) Fehlern über zwei Schritte kommen kann. Das bestätigt die These, dass es mit grosser Wahrscheinlichkeit zwei Schreiber gegeben hat: Einen Verfasser des Urtextes und ein Abschreiber, der diesen Urtext verwendete, um das Kryptogrann, so wie wir es kennen zu kreieren.

Neben den Fehlern durch falsche Anwendung des Codes oder durch Abschrift, wimmelt es im Text von grammatischen und lexikalischen Fehlern. Das heisst, wir können davon ausgehen, dass der Verfasser des Urtextes nicht französischer Muttersprachler war und über keine theoretische Sprachausbildung verfügte. Das hat zur Folge, dass der Schreiber phonologisch schrieb, das heisst: er schrieb so, wie er sprach, und er verwechselte manchmal ähnlich klingende Wörter. Nehmen wir den historischen und geografischen Kontext zu Hilfe, lässt sich vermuten, dass der Verfasser des Urtextes nicht aus Frankreich stammte, sondern mit grosser Wahrscheinlichkeit einer anderen Ethnie angehörte. In Kenntnis der Kolonialsituation im Indischen Ozean im 18. Jahrhundert, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um einen afrikanischen Sklaven handelte, vermutlich bessergestellt und schon länger im Dienst seines Herrn und wenigstens mündlich der französischen Sprache mächtig. Es gibt in der Sprache keine Hinweise auf Einflüsse von Kreolisch. Das heisst, der Text muss noch vor der Entwicklung dieser eigenständigen Dialekte bzw. Sprachvarianten enstanden sein.

Transkriptionsbeispiel

Die Tauben

Originaltranskription:
APREDMEZUNEPAIREDEPIJONTIRESKET
2DOEURSQESEAJTETECHERAL

Bereinigung:
PRENEZ UNE PAIRE DE PIJON
TIRES LES COEURS PESES O TETE CHEVAL

Moderne Umschrift:
Prenez une paire de pigeons. Tirez les coeurs, pressez[-les] à la tête du cheval.

Übersetzung:
Nehmen Sie ein Taubenpaar. Ziehen Sie die Herzen heraus und drücken Sie sie gegen den Kopf des Pferdes.

Sprachliche Hinweise:
Der Schreiber verwendet statt -ez (Befehlsform) zwei Mal -es, was phonologisch identisch ist. Er verwechselt vermutlich die beiden ähnlich lautenden Verben peser und presser (= drücken).

Geschätzte Zuverlässigkeit der Transkription: 85%

Kommentar:
Das Rezept mit den lebendig halbierten Tauben findet sich spätestens seit dem
16. Jahrhundert bei etlichen Autoren. Girolamo Ruscelli führt es bereits 1557 als Mittel gegen die Pest in seinem 6-bändigen Werk «De secreti del reverendo donno Alessio Piemontese» auf. Dass damit auch Pferde behandelt wurden, lässt sich nicht nachweisen. In späteren Quellen wird das Rezept vor allem gegen psychische Krankheiten wie Melancholie
empfohlen.


Die komplette neue Transkription mit Deutungen und historischen Quellen findet sich im Artikel «DIE NEUE TRANSKRIPTION» (nur für PREMIUM-Mitglieder).


Erwähnte Quellen:

Seuren, Günter: Schätze dieser Erde. Abenteuer, Glück und Gold. München: Schneekluth Verlag, 1989.

Mezino, Emmanuel. Mon trésor à qui saura le prendre. 2014.

Dresen, Erik Alexander: Die Paragoninsel. Augsburg: Erik Alexander Dresen, 2015.

Lougnon, Cyrille: Olivier Levasseur dit „La Buse“ – Piraterie et contrebande sur la Route des Indes au XVIIIe siècle. Paris: Riveneuve, 2023.

Ward, Nigel: The Cryptogram of La Buse. Online verfügbar unter: https://sites.google.com/view/labuse.


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